Silvana E. Schneider
Autorin

Leseprobe Prosaminiatur





Im internationalen Literaturwettbewerb "Goldstaub 2020" der Autorinnenvereinigung.eu prämierte Prosaminiatur.
Thema: "Wo Augen dich ansehen entstehst du!" Ein Zwiegespräch zwischen Autorin und Objekt!

    

Bild, schwarz-weiß

(»Mädchen im Gras mit Hund«)

  

Hinter manchen Bildern lauern Geschichten – wie Raubkatzen im hohen Gras – lautlos, präsent, unberechenbar. Jederzeit bereit zum Sprung hinein in die Gedanken.

Dort triggern sie das Hirn mit Empfindungen aus einer anderen Welt, einer anderen Zeit, einem anderen Ich. Sie machen Wahrheit zur Fiktion und Fiktion zur Wahrheit.  

Soviel freie Zeit – jetzt in diesen überschatteten Viruswochen. Warum also nicht die seit Jahren (oder Jahrzehnten?) in Schachteln dahin dämmernden Fotos sortieren?

Ich wühle in den Historischen, da liegst du vor mir: ein sehr kleines Schwarz-Weiß-Bild. Leicht verbogen und mit dem wellenförmigen schmalen weißen Rand, wie er typisch war für fast alle Fotografien aus der Zeit Ende der Fünfziger Jahre.

Der verwischte Hintergrund zeigt die Silhouette eines Gartenhäuschen, davor Wäschestücke auf der Leine.

Im Vordergrund – gut fokussiert – ein im Gras kauerndes Mädchen mit einem zur Hälfte aus dem Bild gerutschten Hund. Während das verträumte Lächeln aus dem noch kindlich runden Gesicht in Richtung Fotograf zielt, verrät der zum Hund gestreckte Arm bereits den nächsten Wachstumsschub des dünnen Körpers.

O nein, das bin ja ich!, denke ich. Meine Güte, wie lange ist das her? Und der verschnittene Pony – g r a u e n h a f t!

Doch schon sitze ich auf dieser Wiese von damals, spüre die sommerliche Wärme auf meiner Haut. Mein Gehirn funkt die Duftkakofonie dieses Augenblicks dazu: Frische, im Wind flatternde Wäsche, sonnenerhitzte Erde, herber Grasschnitt, warmes Hundefell. Tief atme ich diesen unwiederholbaren Sommer ein, während mich wohlig das Glück flutet meinen alten treuen Freund, den ich so liebe, bei mir zu wissen. Eben lag er noch an mich geschmiegt auf der Decke im Gras.

Der Fotograf hat ihn – seinen Fluchtmodus auslösend – hochgeschreckt. 

Ich greife in sein Fell, meine Hand sagt ihm: Alles gut, ich bin da. Er setzt sich. Die Kamera klickt.  

Du bist in der Welt!

 

 

 


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